Hand aufs Herz – 3 Fragen an Philipp Aerni
Unser Land ist eine wichtige Drehscheibe für den russischen Rohstoffhandel. Müsste man, wenn man Russland voll treffen will, nicht genau dort ansetzen, wo es wehtut und den russischen Rohstoffhandel unterbinden? Und: Sollten sich Unternehmen ganz aus Russland zurückziehen und was wäre mit einem solchen Rückzug gewonnen? Wir fragen nach bei Philipp Aerni, Direktor des Center for Corporate Responsibility and Sustainability (CCRS) an der Hochschule für Wirtschaft Freiburg.
Liberethica: Die grösste Schweizer Industriefirma ABB und das Spezialitätenchemie-Unternehmen Clariant haben ihren Betrieb in Russland bis auf weiteres eingestellt. Sollen Schweizer Firmen angesichts des Krieges in der Ukraine weiterhin mit Russland geschäften oder sich vollständig aus diesem Land zurückziehen?
Philipp Aerni: Die Erfahrung zeigt, dass die Kosten für das Nicht-Einhalten speziell von US Sanktionen für multinationale Unternehmen wie ABB oder Clariant grösser sein können als der Rückzug aus dem boykottierten Land. Russland ist ausserdem militärisch, nicht aber wirtschaftlich sehr bedeutend. Dennoch werden diese Firmen sicherstellen, dass sie im Fall einer künftigen Normalisierung der Verhältnisse wieder dort weiterfahren können, wo sie aufgehört haben. Und das ist auch gut so, denn die wirtschaftliche Verflechtung konfrontiert die lokale Bevölkerung mit alternativen Sichtweisen und zwingt sie, auch andere Kulturen zu verstehen. Sie erhöht dadurch den Grad der geistigen Offenheit.
Liberethica: Wenn man den russischen Aggressor voll treffen will, muss man den russischen Rohstoffhandel unterbinden. Doch dies hätte negative Auswirkungen auf die eigenen Leute, die unter Umständen in kalten Häusern sitzen müssten. Wie lässt sich dieses ethische Dilemma lösen?
Philipp Aerni: Hier muss sich Europa selbst an der Nase nehmen. Es war so quasi ein Pakt der Grünen mit der Industrie in Deutschland und Österreich, dass man sich von AKWs verabschieden, jedoch die ‘back-up’ Energieversorgung für die Wirtschaft durch fossile Brennstoffe aus Russland sicherstellen will. Die Konsequenz: Gasimporte aus Russland stammen in Deutschland zu zwei Drittel und in Österreich zu 80% aus Russland. Diese Deals waren weder aus klimaschutz- noch aus sicherheitspolitischer Sicht verantwortungsvoll. Sie bewirken nun auch, dass die Sanktionen gerade dort, wo sie die grösste Hebelwirkung hätten, nicht durchgesetzt werden können, weil sie nämlich auch die eigene Bevölkerung zu spüren bekommen könnte. Kalte Füsse hätten nicht nur die Bewohner der betroffenen Wohnungen, sondern auch die Politiker.
Liberethica: Novartis und anderen Pharmakonzernen ist daran gelegen, ihre Geschäftstätigkeit in Russland möglichst aufrechtzuerhalten. Hand aufs Herz: Was wäre durch den Rückzug dieser Unternehmen gewonnen? Oder anders gefragt: Ist es ethisch vertretbar, der russischen Bevölkerung den Zugang zu Medikamenten zu verwehren?
Philipp Aerni: In der Tat wäre mit dem Rückzug der Pharmakonzerne wenig gewonnen. Ihre Produkte haben ja keine ‘Dual-Use’ Funktion, d.h. sie können nicht zugleich als Waffe im Krieg verwendet werden. Ich bin mir allerdings nicht sicher, wie stark sich ein Rückzug von Novartis und Co auf die Versorgung der russischen Bevölkerung mit Medikamenten auswirken würde. Bei 75% der in Russland hergestellten Arzneimittel sind zwar importierte Substanzen notwendig, doch diese kommen nicht notwendigerweise aus dem Westen. Ausserdem müsste auch angeschaut werden, welche Reserven die russischen Behörden als grösster Einkäufer von Arzneimitteln aufgebaut haben, und ob die importierten Substanzen auch von der inländischen Pharmaindustrie mittel- bis langfristig in ähnlichen Mengen hergestellt werden könnten. Der Abzug von Novartis hätte jedoch sehr wohl negative Auswirkungen auf know-how Transfer und würde zum Verlust von zahlreichen Arbeitsplätzen führen, gerade in der Region St. Petersburg, wo Novartis im Jahr 2018 eine neue Produktionsanlage gebaut hat. Diese Investition war Teil einer mehrjährigen Investitionsstrategie in Höhe von USD 500 Mio. Zu diesem umfassenden Engagement im russischen Gesundheitssektor gehören auch Kooperationen mit Universitäten und Hochschulen, sowie mit aufstrebenden russischen Privatunternehmen in unterschiedlichen Bereichen der medizinischen Wissenschaft. Mit anderen, Novartis hilft massgebend beim Aufbau eines lokalen Wirtschaftsökosystems, dass auch positive Effekte für die russische Gesellschaft als Ganzes generieren könnte. Putin scheint einen solchen Kollateralschaden in Kauf zu nehmen.
Philipp Aerni ist Direktor des Zentrums für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit an der School of Management Fribourg und Mitglied des Kuratorium von Liberethica.