Russland aufgeben oder treu bleiben? Was Firmen nun bedenken müssen
Schadet man mit einem Rückzug vor allem dem Regime oder den Landsleuten? Diese Frage sollten sich Firmen stellen, die mit Russland geschäften, sagen Wirtschaftsethiker. Schwierig werde es, wenn der Eindruck entstehe, Firmen würden russische Konsumenten «bestrafen».
Westliche Erdölkonzerne steigen aus russischen Beteiligungen aus. Die britische Shell hat in Russland bisher mit Gazprom zusammengearbeitet. Das ist derjenige Konzern, der mehrheitlich im Besitz des russischen Staates ist und wohl wie kein zweiter Putins Kriegswirtschaft stützt. Ähnlich verfährt der Konkurrent BP, der seine Beteiligung am Mineralölkonzern Rosneft verkaufen wird, was einen Milliardenabschreiber zur Folge hat. Auch Rosneft befindet sich mehrheitlich im Besitz des Kremls.
Rohstofffirmen sind also stark mit Putins Regime verwoben. Hielten westliche Firmen an diesen Verbindungen fest, müssten sie sich den Vorwurf gefallen lassen, sie würden indirekt Menschenrechtsverletzungen bei der Zivilbevölkerung in der Ukraine begünstigen.
Stigmatisierung verhindern
Aber wie sollen sich ausländische Firmen verhalten, die ausserhalb des direkt politisierten Rohstoffsektors in Russland geschäften? Bleibt nach dem Angriff auf die Ukraine auch für sie nur der Rückzug übrig, um den eigenen Ruf zu schützen?
Eine pauschale Antwort gebe es nicht, sagt Philipp Aerni, Direktor des Center for Corporate Responsibility and Sustainability (CCRS) an der Hochschule für Wirtschaft in Freiburg i. Ü. Wenn Apple in Russland keine Produkte mehr verkauft oder H&M und Ikea ihre Filialen schliessen, setzen die Unternehmen damit zwar ein Zeichen – das ihnen bei Konsumenten im Westen Sympathien bringen mag. Aerni gibt aber zu bedenken, dass eine Firma damit dazu tendiert, Konsumenten, die unter einem autoritären Regime wie in Russland leben müssen, generell zu benachteiligen. Eine solche «Bestrafung» sieht er kritisch.
Ein Rückzug aus einem schwierigen Markt muss nicht notwendigerweise mit moralischer Überzeugung zu tun haben. Die Kosten können schlichtweg zu hoch sein, gerade wenn globale Sanktionen verhängt werden. «Aber was ist mit einem Rückzug gewonnen?», fragt der Wissenschafter. Westliche Firmen mit eigener Präsenz erfüllten in Schwellenländern oft höhere Standards der guten Unternehmensführung oder böten bessere Arbeitsbedingungen als einheimische Unternehmen. Zudem seien diese Betriebe in globale Wertschöpfungsketten integriert, womit lokale Manager und Managerinnen in einen internationalen Austausch eingebunden seien.
Wenn in Russland produzierende Unternehmen nun in Scharen das Land verlassen, geht all dies verloren. Der Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé zum Beispiel beschäftigt in Russland 7000 Personen und erzielt einen Umsatz von 1,7 Milliarden Franken. Volkswagen wiederum betreibt in Kaluga ein Werk mit 4000 Angestellten. Der deutsche Konzern hat mittlerweile die Produktion in und die Exporte nach Russland gestoppt. Nestlé hingegen führt das Geschäft weiter.
Firmen sollten sich also die Frage stellen, ob sie mit ihrem Rückzug wirklich das Regime schwächen oder ob es vielmehr die allgemeine Bevölkerung trifft. Im ersteren Fall sei eine Trennung angezeigt, um Putin und seine Entourage zu schwächen, erörtert Aerni. Wenn aber die Versorgungssicherheit der Bevölkerung leidet und zahlreiche Arbeitsplätze verlorengehen, sieht Aerni wenig Anlass, Russland den Rücken zu kehren.
Aerni kritisiert an der momentanen Debatte, dass nur vom Abbrechen der Brücken die Rede sei. Doch die völlige Isolation Russlands könne auch zu einer Radikalisierung führen und Putin sogar stärken. Denn die Menschen fühlten sich dann vom Westen ungerecht behandelt und diskriminiert, was Putin propagandistisch ausschlachten würde.
Neben der Peitsche solle man deshalb auch etwas Zuckerbrot bereithalten, im Sinne von: «Wenn ihr den Krieg beendet und eure Politik normalisiert, sind wir bereit, wieder in Russland zu investieren.» So verhalten sich im Prinzip diverse Firmen, die vorübergehend ihre Aktivitäten in Russland eingestellt oder stark reduziert haben. Beispielsweise nimmt Siemens keine neuen Aufträge mehr an, setzt aber das Service- und Wartungsgeschäft für bereits gelieferte Züge fort.
Opportunismus als Reputationsrisiko
Bei Konsumgütern spielt naturgemäss das Reputationsrisiko eine grössere Rolle als bei Investitionsgütern, die von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden. Laut den Tamedia-Zeitungen haben Globus und Coop ihre Bestellungen für russische Produkte wie Wodka oder Kaviar gestoppt. Man wolle so ein Zeichen setzen, sagt Globus.
Angenommen, eine Firma habe die Politik, keine Produkte aus Ländern zu verkaufen, in denen ein Unrechtsregime herrscht. Dann passe es zur Strategie, wenn sie auch Produkte aus Russland aus dem Sortiment nehme, sagt die selbständige Wirtschaftsethikerin Dorothea Baur.
Allerdings sei das in anderen Fällen eine heikle Strategie. Das Aussortieren von russischen Waren könnte auch als Opportunismus gesehen werden. Wenn sich Firmen jedenfalls jetzt auf ethische Prinzipien berufen, die sie sonst nicht befolgten, könnte das dem Ruf ab- statt zuträglich sein.
Firmen wie Emmi oder Lindt & Sprüngli verkaufen ihre Produkte nach wie vor nach Russland, auch wenn das für sie nur ein kleiner Markt ist. Würden sie das Land boykottieren, würde das das Regime kaum beeindrucken. Wenn Apple seine Produkte dagegen aus russischen Läden nimmt, vermag das eher aufzurütteln.
In einer Spirale der Politisierung
Einen anderen Ansatz verficht der Wirtschaftsphilosoph Hartmut Kliemt von der Uni Giessen. Der Vorzug eines Kapitalismus westlichen Zuschnitts sei es, dass der staatliche vom privaten Bereich klar getrennt sei. Ein Manager einer Kapitalgesellschaft ist dabei in erster Linie Treuhänder der Eigentümer. Diese haben aber oft ganz verschiedene Überzeugungen. Der Manager respektiert nun den Wertepluralismus unter den Aktionären am besten, wenn er den langfristigen Unternehmenswert maximiert.
Wenn Rohstofffirmen von heute auf morgen eine 30-jährige Zusammenarbeit mit Russland über den Haufen würfen, sei dies zwar wünschenswert, um Putins Kriegsmaschinerie zu behindern, hält Kliemt fest. Aber der einzelne Aktionär habe keine Gelegenheit gehabt, dazu Stellung zu nehmen und den Wertverlust seiner Valoren durch zeitigen Verkauf zu minimieren.
Es macht Kliemt Bauchweh, dass Firmen und westliche Regierungen durch Putin in eine Spirale der Politisierung der Wirtschaft hineingezogen würden – wozu sie letztlich Putin zwingt. Vielleicht, so Kliemt, sollte man künftig in der Unternehmensverfassung festhalten, wie sich die Firma in verschiedenen Szenarien verhält, also etwa in dem Fall, dass ein Land, in dem sie tätig ist, einen Krieg anzettelt.
Man kann in einer Unternehmensverfassung jedoch nicht jede Eventualität abdecken. Aktionäre, die in Rohstofffirmen investieren, sollten sich jedenfalls bewusst sein, dass die Eigentumsrechte in Staaten wie Russland eine wacklige Angelegenheit sind.
Wie auf Putins Aggression zu reagieren ist, bleibt für die Firmen eine Gratwanderung. Es scheint aber wohlfeil, zu fordern, dass sie nun einfach alle Verbindungen mit Russland kappen. Dann müsste der Westen ehrlicherweise zuerst auf die Einfuhr russischer Rohstoffe verzichten – doch dazu ist man in Europas Hauptstädten angesichts der hohen Kosten für die eigene Versorgungssicherheit bis jetzt nicht bereit.
Erschienen in der NZZ am 05. März 2022.
Autor:
Christoph Eisenring, Wirtschaftsjournalist Neue Zürcher Zeitung