«Die Frage ist, wie Stellung bezogen wird»

Ein Manifest ruft die Kirchen dazu auf, sich nicht durch die «heftigen Reaktionen, die das Engagement der Kirchen für die Konzernverantwortungs­initiative ausgelöst hat», einschüchtern zu lassen, sondern sich wieder vermehrt in die gesellschaftspolitische Diskussion einzubringen. Unter­schrieben hat das Manifest auch Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie an der Universität Zürich. Liberethica hat bei ihm nachgefragt.

Liberethica: Verantwortlich für das Manifest Kirche und Politik ist die Gruppe KircheNordSüdUntenLinks, die betont, dass es einer Kirche von unten links bedürfe. Wie geht das zusammen damit, dass den Kirchen ­– anders eben als Parteien oder Wirtschaftsverbänden ­­– Menschen ganz unterschiedlicher politischer Ausrichtung angehören, die das Band des Glaubens und nicht der politischen Überzeugung verbindet?

Ralph Kunz: Genau, so ist es. Also sagen andere, es brauche eine KircheSüdNordObenRechts. Die Frage ist, wie beides zusammengeht, wie also Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen in derselben Kirche zusammenfinden und sich (dennoch) als Christenmenschen anerkennen können. Sagen wir es einmal – um es nicht zu kompliziert zu machen – so: UntenLinks bocken die Sozialen und ObenRechts hocken die Liberalen. Und lassen wir für einmal – um es nicht zu harmonisch zu machen – die Mitte aussen vor. Es ist wie beim Refrain: «Mal ufe, mal abe, mal links, mal rechts». Der Glaube ist vollgepackt mit Überzeugungen, wie die Polis gestaltet werden soll. Wer sagt, dass das Band des Glaubens Kirche ausmacht, muss damit rechnen, dass in dieser Verbindung der Stoff für politischen Zoff steckt.

Liberethica: Wie muss man es sich erklären, dass im Manifest das derzeitige «gefährliche Schweigen» der Kirchen beklagt wird, obwohl kirchliche Organisationen und Gruppierungen sich regelmässig in den öffentlichen Diskurs einmischen und gerade im Vorfeld von Abstimmungen immer wieder pointiert Stellung beziehen und auch vor dezidierter Kritik nicht zurückschrecken, wie dies gerade eben mit der Kritik der EKS an den geplanten Änderungen im Asylgesetz der Fall ist?

Ralph Kunz: Es ist in der Tat fraglich, ob ein «gefährliches Schweigen der Kirche» zu beklagen ist oder ob das Manifest «nur» Ausdruck der Befürchtung ist, dass es dazu kommen könnte. Auch ich denke, dass ein Verstummen der Kirche bedauerlich wäre. Man kann und soll aber zurückfragen, ob die Kirche zu Themen, die sie nichts angehen, schweigen soll. Die Frage ist, was die Kirche nichts oder wenig angeht. Und das lässt mich zurückfragen: Was wäre denn ein «gefährliches» oder ein «unangemessenes Reden»? Das Manifest erinnert an den Auftrag der Kirche, auf den sich diese als Institution und Nachfolgerin der Jesusbewegung beruft. Dieser Auftrag ist gegeben, er steht nicht zur Debatte. Zur Debatte steht hingegen, wie er umgesetzt werden soll. Wer in der Kirche bestimmt den Kairos, das Pathos und das Ethos der angemessenen Rede und des klugen Schweigens? Sowohl das «gefährliche Schweigen» als auch das «unangemessene Reden» ist Teil des Disputs.

Liberethica: Bemerkenswert ist, dass die Kirchen im Manifest dazu aufgerufen werden, sie sollten sich durch finanzielle Argumente nicht unter Druck setzen lassen. Hat man Angst, dass den Kirchen der Geldhahn zugedreht wird, weil die Stimmen, die die Abschaffung der Kirchensteuer für Unternehmen verlangen, immer mehr werden?

Ralph Kunz: Logisch hat «man» in der Kirche Angst davor, dass politische Meinungsäusserungen eines kirchlichen Vertreters oder eines Gremiums der Organisation zu Austritten führen könnten – namentlich dezidierte Voten zu strittigen Fragen könnten in einer Institution, die sich überparteilich konstituiert, Irritationen hervorrufen. Die Befürchtung ist: Wenn die Kirche die Hand beisst, die sie füttert, ist das Wasser auf die Mühle der Befürworter einer rigideren Trennung von Kirche und Staat oder derjenigen, die finden, dass die Besteuerung von juristischen Personen nicht mehr zeitgemäss sei. Die Macht des Geldhahns hat indirekt einen Einfluss auf die Kommunikation. Ich denke, dass es möglich sein muss, die Diskussion über den Sinn oder Unsinn der gegenwärtigen Finanzierung nicht nur juristisch und in Kategorien des Nutzens, sondern auch theologisch zu führen. Das schliesst auch Überlegungen mit ein, wo und wann dezidierte Meinungen im gegenwärtigen Regime (k)einen legitimen Rahmen haben. Und wann Kosten-Nutzen-Rechnungen keine Rolle spielen dürfen.

Liberethica: Im Manifest heisst es, die Kirchen müssten dann als Institution Stellung beziehen, wenn das gesellschaftlich-politische Zusammenleben als solches gefährdet sei. Als Beispiel dafür wird die Abstimmung über die KVI genannt. Hand aufs Herz: Hat nicht gerade dieses Beispiel trefflich gezeigt, dass man aus christlicher Perspektive zu unterschiedlichen politischen Haltungen und Einschätzungen gelangen kann? Wir haben  bei der KVI ja nicht über die Menschenrechte als solche, sondern über rechtliche Instrumente zur Einhaltung der Menschenrechte und des Umweltschutzes abgestimmt.

Ralph Kunz: Die KVI war m.E. ein Präzedenzfall einer politischen Abstimmung, bei der man zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen konnte – es war auch ein Grenzfall der kirchlichen Kommunikation, aber nicht überall ein Sündenfall! Es geht auch um die Frage, wie Meinungsbildung in der Kirche besser funktionieren kann. Weder ein Ja noch ein Nein zur Initiative kann das «Christliche» für sich reklamieren. Aber das ist ein Argument für Stellungnahmen. Denn der Gegenstand der Initiative war in der Sache wichtig genug, um zu streiten, so dass man sagen kann, die Kirche soll Stellung beziehen. Ich war zuerst dafür, dann dagegen und am Ende wieder dafür. Mich haben klare Voten Einzelner und Organe nicht gestört, so lange sie nicht aggressiv vorgetragen wurden und solange mir die Gelegenheit gegeben wurde, auch das Gegenargument zu hören oder zu lesen. Die Frage ist also, wie Stellung bezogen wird, ob sich die Kirche mit einer Stimme oder mehrstimmig äussert und wenn sie sich als Behörde äussert, wie ihre Stellungnahme gewichtet wird.

Liberethica: Die theologische Tradition lehrt uns, dass die Welt nicht einfach in Schwarz-Weiss, in Gute und Böse, Halunken und Engel eingeteilt werden kann. Entsprechend gibt es Situationen, in denen wir in eine Zwickmühle hineingeraten, in der keineswegs klar ist, was das bessere oder wenigstens weniger schlechte Verhalten ist. Wie soll mit ethischen Dilemmata umgegangen werden, was ist zu tun, wenn keineswegs eindeutig ist, ob z.B. durch den Rückzug eines Unternehmens aus einem Unrechtsstaat der soziale Nutzen oder Schaden grösser ist?

Ralph Kunz: Was ist falsch an schwarz-weiss? Wenn «schwarz» für das Falsche und «weiss» für das Richtige stehen, kann ich die Skepsis halbwegs verstehen. Schwarz-Weiss-Optik kann man sich schliesslich nicht mehr leisten, ohne rot zu werden oder sich blau und grün darüber zu ärgern! Denn das würde heissen, dass wir Weissen schwarz denken. Oder ist das auch schwarz-weiss? Kurz – ohne schwarzen Humor gesagt – die Theologie lehrt auch, dass man Schwarz-Weiss kennen muss, um die fifty shades of gray der Moral zu erkennen. Es gibt auch die Zwickmühlen des Gewissens, die zwicken, weil man sich einredet, es sei viel zu kompliziert, um eindeutig Stellung zu beziehen. Es gibt auch ein Duckmäusertum, das das Dilemma vorschiebt, weil man das Hässliche weissmalt und schönredet, was nicht stimmt. Es ist wichtig, einen Umgang mit echten Dilemmata zu finden, aber auch die falschen zu entlarven. Das ist doch das Wesen der Debatte! Auch wenn es uns manchmal zu bunt wird. Dass wir immer vom Grundsätzlichen ins Konkrete und wieder zum Grundsätzlichen kommen und darum ringen müssen, was «schwarz», was «weiss» und was «grau» ist.

Liberethica: Kirchliche Stellungnahmen seien auch dann angezeigt, «wenn die demokratischen Prinzipien hintergangen“ und „andere Interessen, etwa wirtschaftliche, die sozialpolitischen Prozesse dominieren“ würden. Soll das heissen, dass Demokratie vor den Fabriktoren und Wirtschaftsetagen haltmacht?

Ralph Kunz: Das «Manifest» ist seit Marx so etwas wie ein Genre für politische Erklärungen der Opposition. Dazu passt der links-unten-nach-oben-Drall, der sich darin äussert, dass ein anwaltschaftliches Engagement für wirtschaftlich und rechtlich Benachteiligte eingefordert wird. Wirtschaftskritik im Namen der Demokratie, d.h. der Bürger- und Menschenrechte, ist aber nicht per se wirtschaftsfeindlich. Und die Kritik an einem überbordenden Gewinnstreben gehört zur DNA der Kirche. Der anwaltschaftliche Drall würde dann zum ideologischen Drill, wenn die Kirche mit einer Hermeneutik des Verdachts wirtschaftliches Denken aus Prinzip verteufelt – das höre und lese ich nicht in diesem Manifest. Mit anderen Worten: Kritik ist dann angebracht, wenn sie einen Missbrauch benennt, intelligent und kompetent vorbringt. Das gilt für alle «Wächter» und «Anwälte» und nicht nur für die Kirche.

Liberethica: Zwar wird im Manifest hervorgehoben, dass die Kirchen im modernen demokratischen Rechtsstaaten nur eine Stimme unter vielen seien. Gleichzeitig wird aber vorausgesetzt, dass der Kirche mit dem prophetischen Wächteramt in der politischen Debatte eine besondere Autorität zukommen würde. Braucht es im modernen demokratischen Staat, wo Kritik an der Regierungsarbeit innerhalb des politischen Systems erfolgt, wo gewissermassen das Wächteramt bereits ins System eingebaut ist, noch die Kirche als «Wächterin»?

Ralph Kunz: Das Besondere des kirchlichen Wächteramtes hat zwei Seiten, die gerne unterscheiden würde: Zum einen gibt es das prophetische Amt, das bei einer krassen Ungerechtigkeit aufgerufen ist, gegen jene Autoritäten Widerstand zu leisten, die nicht das Rechte tun. Wenn der Status Confessionis gegeben ist. Ich würde den Extremfall des Widerstands gegen das Unrechtsregime von der prophetischen Gabe unterscheiden, die der Glaubensgemeinschaft gegeben ist, um immer für das Recht einzustehen. Gemeint ist mit dem «Prophetischen» ein Sehen und Abwägen, bzw. ein Fragen und Nachdenken, das von Fall zu Fall und aufgrund von Kriterien zu einem Urteil kommt, das sich aus den Überzeugungen des Glaubens ableitet. Die Autorität des Prophetischen beruht wie jede Autorität in einer Diskursgemeinschaft auf der Anerkennung gemeinsam geteilter Werte. Ihre Besonderheit erweist sie dadurch, dass sie Begründungen kommuniziert, die andere «Wächter» nicht zum Diskurs beitragen können oder wollen. Verweigert oder vermeidet es die Kirche, die Gründe des Evangeliums zu kommunizieren, hat sie nichts zu sagen und hält besser die Klappe.

Liberethica: Mit Verweis auf Dietrich Bonhoeffer heisst es, dass die Kirchen in die Lage kommen könnten, im Extremfall dem Rad des Staates «in die Speichen zu fallen» und dem Staat gegenüber zivilen Ungehorsam auszuüben. Was genau wäre denn ein solcher Extremfall, da wir nicht in einem totalitären Staat wie Bonhoeffer leben, sondern in einer Demokratie, und politische Instrumente nutzen können.

Ralph Kunz: Der Extremfall, der einen prinzipiellen Widerstand gegen den Staat theologisch rechtfertigen würde, ist in einem Rechtsstaat per Definition nicht gegeben – was nicht ausschliesst, dass der Staat in jedem Fall Recht hat. Dann heisst aber «Widerstand», um die Metapher aufzugreifen, dass man die «Räder des Rechts» ins Rollen bringt.

Liberethica: Im Manifest wird beklagt, dass umweltbewusste Aktivistinnen und Aktivisten „wegen ihrer harmlosen Aktionen rechtlich bestraft“ würden. Wie sehen Sie das Verhältnis von Recht und Moral und ist ziviler Ungehorsam von Klima-Aktivisten legitim?

Ralph Kunz: Einmal abgesehen davon, dass Bonhoeffer ein anderes Kaliber ist: Wenn jemand beschliesst, die Regierung zu stürzen, ist das etwas anderes als ziviler Ungehorsam: Dieser ist per Definition halbwegs legitim, weil er ein Ungehorsam ist, der sich «zivil» und nicht «radikal» äussert. Es sind «Aktionen» oder auch «Zeichenhandlungen», die Aufmerksamkeit für ein Anliegen generieren, das – nach Meinung der Aktivisten – von der Politik oder dem Publikum zu wenig ernst genommen wird. Darum kratzen sie am Rechtsstaat. Streik, Besetzungen, Klebeaktionen und Demonstrationen sind so lange ein halbwegs legitimes Mittel der Politik, als der bewusst in Kauf genommene Rechtsbruch harmlos, also massvoll und die Aktion «zivilisiert» bleibt. Die Aktion ist nur halbwegs legitim, weil mögliche Sachbeschädigungen u.a. im Falle einer Klage von der Justiz verfolgt werden müssen. Meines Erachtens führt ein Begehren in Form eines Aufbegehrens sowohl politisch wie moralisch in Grauzonen. Rechtlich ist es eine Frage der Verhältnismässigkeit, wie damit umzugehen ist. Zwei Extreme sind zu vermeiden: Eine Verharmlosung des Rechtsbruchs und eine übertrieben harte Reaktion auf Aktionen des zivilen Ungehorsams, die eindeutig politisch motiviert sind.
Man kann es auch so sagen: Es führt kein Weg am Rechtsstaat vorbei. Und wenn Aktivisten am Recht kratzen, müssen sie damit rechnen, ein paar Kratzer abzubekommen.

Liberethica: Sie selber sagten einmal, die Kirchen seien zu „Meinungsmaschinen“ geworden. Anstatt mit Parolen und Meinungsäusserungen selber zur verbalen Aufrüstung beizutragen,  sollten die Kirchen lieber Räume jenseits des Schlagabtausches eröffnen. Wie könnten solche Räume denn aussehen?

Ralph Kunz: Es ist so, die Motoren der Meinungsindustrie laufen heiss. Meiner Meinung nach (!) erreichen wir Kühlung durch Verlangsamung und Verlangsamung durch mehr Tiefgang. Wir haben genug Influencer. Aber das ist kein Grund, um zu faulenzen. Das Stichwort heisst Debattenkultur. Der «Raum», in dem Debatten gepflegt werden, hat möglichst unterschiedliche Formate. Darunter sollte es auch ein Forum für profilierte, kontroverse und profunde Auseinandersetzung geben, die der Meinungsbildung dient und nicht nur Meinungsmache ist. Wir haben als polittheologischer Thinktank zum Thema «Ehe für alle» einen Pilotversuch gestartet, der mich überzeugt hat. Die EKS oder Akademien könnten diese Foren lancieren. Und es wäre zu wünschen, dass sich sowohl links-unten als auch rechts-oben streitlustige Christenmenschen finden, die sich der Sache wegen auf Debatten einlassen, die bissig sind, aber anständig bleiben.