Gefragt sind Verwaltungsräte mit Charakter

Jean-Daniel Gerber, ehemaliges Mitglied von Verwaltungsräten: «Nicht zu vernachlässigen ist der moralische Schaden, nämlich die Ächtung, die gescheiterte Unternehmer in der Öffentlichkeit gewärtigen müssen.»

Nach dem CS-Debakel rückt die Rolle der Verwaltungsräte in den Fokus. Führen finanzielle Anreize dazu, dass sich die Anstrengungen des Managements in Richtung riskantes Verhalten bewegen? Wie kann Groupthink in Entscheidungsgremien entgegengewirkt werden?

Wie kann in einer Branche, die notfalls mit dem Geld von Steuergeldern gerettet wird, das Geradestehen für das eigene Handeln und die Übernahme persönlicher Verantwortung gestärkt werden? Und: Ist der Finanzsektor anfälliger für unethisches Verhalten als andere Branchen?

Wir fragen nach beim ehemaligen CS-Verwaltungsratsmitglied Jean-Daniel Gerber. Gerber war Verwaltungsratsmitglied der Lonza und der Weltbank sowie der Credit Suisse, die er nach drei Jahren wegen unterschiedlicher Auffassung zur Geschäftspolitik verliess.

Kernaussagen zur Wahl von Verwaltungsräten:

  • Es müssen Verwaltungsräte mit Charakter und Durchsetzungsvermögen gewählt werden.
  • Gefragt sind auch Verwaltungsräte, die die nationalen Gegebenheiten kennen und in einem mehrheitlich von Ausländern dominierten Gremium das lokale Stimmungsbild wiedergeben können, das mitzuberücksichtigen ist.
  • An Verwaltungsräten, die daneben einen CEO-Posten in einem Grossunternehmen bekleiden oder in mehreren Verwaltungsräten sitzen, ist zu zweifeln.
  • Banken, wie jedes Unternehmen, ob privat oder öffentlich, benötigen ein transparentes Nominierungsverfahren, in welchem die Auswahlkriterien kommuniziert und, wenn immer möglich, die offenen Stellen intern und extern ausgeschrieben werden.

Kernaussagen zur Lohnpolitik:

  • Vergleichsstudien führen in einer Branche zu einer nach oben bewegenden Lohnspirale. Diese zu durchbrechen ist schwierig. Dies gelingt nur in Situationen, in welcher das Unternehmen in einer tiefen Krise steckt.
  • Der Verwaltungsrat sollte mit dem guten Beispiel vorangehen. Bestehen Übertreibungen in den Lohn- und Boni-Angelegenheiten, muss der Verwaltungsrat zunächst seine eigene Entschädigung anpassen, bevor er Exzesse in der Geschäftsleitung korrigiert.
  • Ein hoher Bestandteil an Fixlöhnen ist entscheidend. Der Boni-Anteil sollte klein sein. Dieser muss aufgrund des Gesamtergebnisses des Unternehmens berechnet werden – nicht nur aufgrund des Kerngeschäfts.

 

Hier das ganze Interview: 

Liberethica: In der Finanzwelt sind Krisen an der Tagesordnung. Meist aber wartet man vergeblich darauf, dass sich jemand entschuldigen oder Fehler eingestehen würde. Gehört zu einem Unternehmen nicht auch eine Fehlerkultur in dem Sinne, dass man Fehler eben nicht totschweigt, sondern sie benennt und ständig daran arbeitet, sie zu verbessern?

Jean-Daniel Gerber: Die börsenkotierten Firmen unterliegen hoher Transparenzvorschriften. Die Vergangenheit holt die Unternehmer meist ein. Anstatt tröpfchenweise mit der Wahrheit herauszurücken, wären sie deshalb gut beraten, frühzeitig Fehler einzugestehen.

Liberethica: Ein führender Banker verriet mir einmal, dass er sich lange Zeit für unverletzbar gehalten hätte… Kann es sein, dass in der Finanzwelt der Realitätssinn verloren gegangen ist?  

Jean-Daniel Gerber: Die Banken leben in einer Welt, in welcher sich Chancen und Risiken in etwa die Waage halten. Umso wichtiger sind eine effiziente Risikobeurteilung und der Mut, im Zweifelsfall auf das Geschäft und den möglichen Gewinn zu verzichten. Ähnlich einer Bergtour: soll der Gipfelsturm trotz unsicherem Wetter noch stattfinden oder abgebrochen werden?

Liberethica: Die Schweizer Traditionsbank Credit Suisse ist Geschichte. Ist die CS ein Einzelfall oder spiegelt sie nicht vielmehr ein Systemproblem der Finanzindustrie?

Jean-Daniel Gerber: Banken sind für jede Volkswirtschaft unentbehrlich. Die überwiegende Mehrheit der über 200 Bankinstitute in der Schweiz nimmt ihre Rolle gewissenhaft wahr und weist kein ausserordentliches Risikoprofil auf. Die Regulierungsbehörden – Bundesrat, FINMA, SNB – haben es in der Hand, die von der Finanzindustrie ausgehenden systemischen Gefahren zu beschränken. Diese Frage stellt sich bei der jetzt übermächtigen UBS umso mehr. Die Kunst wird darin bestehen, der Bank für ihre Tätigkeit Spielraum zu gewähren, ohne die Systemrisiken zu vernachlässigen.

Liberethica: Es heisst, die Finanzindustrie hätte sich einer ganz bestimmten Führungskultur verschrieben. Wenn dem so sein sollte, worin genau unterscheidet sich diese Führungskultur von jener in anderen Branchen?

Jean-Daniel Gerber: Die Führungsprinzipien sind überall die gleichen, ob Finanz- oder Realindustrie: Klare Ziele, Vorbildfunktion des Kaders, ehrliches Geschäftsgebaren, Chancengleichheit etc. Die Führungskultur muss die Führungsprinzipien reflektieren. Weichen diese stark voneinander ab, leidet die Glaubwürdigkeit des Unternehmens. Der Schwerpunkt der Aktivitäten eines Unternehmens beeinflusst naturgemäss auch dessen Kultur. In der Bankenwelt steht das Geld im Vordergrund, in der Realwirtschaft die Entwicklung von konkurrenzfähigen Produkten oder Dienstleistungen.

Liberethica: Alle sprechen davon, dass in der Bankenwelt ein Kulturwandel erforderlich sei. Aber wie hat man sich das denn genau vorzustellen, ein Kulturwandel lässt sich doch nicht einfach so verordnen? 

Jean-Daniel Gerber: Diese Verallgemeinerung teile ich nicht. In vielen Finanzinstitutionen herrscht eine Kultur, in welcher die Führungsprinzipien auch in der Praxis umgesetzt werden.

Liberethica: Wie könnte Ihrer Meinung nach eine echte kulturelle Veränderung in der Bankenwelt gelingen?

Jean-Daniel Gerber: Dort, wo Veränderungen notwendig sind, ist zuoberst anzusetzen. Der Verwaltungsrat sollte mit dem guten Beispiel vorangehen. Bestehen Übertreibungen in den Lohn- und Boni-Angelegenheiten, muss der Verwaltungsrat zunächst seine eigene Entschädigung anpassen, bevor er Exzesse in der Geschäftsleitung korrigiert. Stellt der Verwaltungsrat eine Missachtung von Führungsprinzipien fest, ist Durchgreifen angesagt und die betroffenen Personen müssen zur Rechenschaft gezogen oder gar ausgewechselt werden. Geschieht dies nicht, werden Führungsprinzipien rasch zum Papiertiger, die Kultur leidet.

Liberethica: Solange Banken an der Fähigkeit zur Vermeidung von Skandalen gemessen werden, lässt sich relativ leicht von einem Kulturwandel sprechen. Was ist aber dann, wenn zwischen kommerziellem Erfolg und Prinzipien entschieden werden muss, wenn man sich also in einem veritablen Wertekonflikt befindet?

Jean-Daniel Gerber: Kommerzieller Erfolg und Führungsprinzipien sind kein Gegensatzpaar, im Gegenteil. Sollte ein Konflikt auftauchen, ist eine Güterabwägung nötig. Wie diese aussehen könnte, hängt vom konkreten Fall und davon ab, von welchen Werten die Rede ist. 

Liberethica: Stichwort «Management by Boni»: Die Frage muss erlaubt sein: Sind es nicht solche Anreize, die Fehlanreize produzieren und dazu führen können, dass sich die Anstrengungen des Managements in unerwünschte Richtungen bewegen, zum Beispiel in Richtung riskantes Verhalten?

Jean-Daniel Gerber: Richtig. Deshalb trete ich für einen hohen Bestandteil an Fixlöhnen ein. Der Boni-Anteil sollte klein sein. Dieser muss aufgrund des Gesamtergebnisses des Unternehmens berechnet werden. Vielfach erfolgt die Auszahlung von Boni nicht nur nach Massgabe des Gesamtergebnisses, sondern aufgrund des Erfolgs des Kerngeschäfts, das die nichtgewinnträchtigen Bilanzposten wie Bussen und Strukturanpassungskosten ausschliesst. Diese Unterscheidung erklärt, wieso Unternehmen Verluste in der Gesamtrechnung einfahren und gleichzeitig hohe Boni ausschütten können.

Liberethica: Verdrängen finanzielle Anreize notwendigerweise die intrinsische Motivation, also den inneren Antrieb der Mitarbeitenden? 

Jean-Daniel Gerber: Das Wort «Beruf» kommt von «Berufung». Heute ist der Zusammenhang nicht mehr eng. Entsprechend können finanzielle Anreize die Motivation stark beeinflussen, wenn diese einzig im Geldverdienen besteht.

Liberethica: Würden Sie so weit gehen und sagen, dass das aktuelle Bankensystem dazu beiträgt, dass Geld zum einzigen Bezugspunkt wird und andere Antriebe wie die soziale und moralische Motivation ins Hintertreffen geraten?

Jean-Daniel Gerber: Im Fokus einer Bank steht naturgemäss das Geld. Aber den Schluss zu ziehen, die Banker hätten keine soziale oder moralische Motivation, wäre voreilig. Insbesondere ermöglichen uns Banken, bspw. Wohneigentum zu erwerben, oder sie erlauben einem Start-up Unternehmen zu expandieren. Vergessen wir auch nicht die freiwilligen Beiträge der Banken an gemeinnützige und kulturelle Organisationen und Vergabungen an Jugend- und Sportvereine.

Liberethica: Wie kann man erreichen, dass die Verantwortungsträger im Verwaltungsrat oder in der Geschäftsleitung wirklich Verantwortung übernehmen?

Jean-Daniel Gerber: Die Hauptverantwortung liegt bei der Geschäftsleitung, denn diese steht unmittelbar in der Verantwortung. Sie muss gegenüber dem Verwaltungsrat für die Resultate des Geschäftsjahres geradestehen, ihre Boni können gekürzt werden, sie kann entlassen werden, wenn sie versagt. Der Verwaltungsrat hingegen steht in einer komfortableren Position, da er keine operativen Funktionen wahrnimmt. Er bestimmt die Führungsprinzipien und die Unternehmungsziele, trifft die Personalentschiede auf höchster Ebene, ist für eine umsichtige Gehalts- und Boni-Politik zuständig, greift durch, wenn seinen Entscheidungen nicht nachgelebt wird. Verantwortungs­klagen gegen den Verwaltungsrat oder seine Mitglieder sind selten, und noch viel kleiner ist die Anzahl erfolgreicher Klagen. Fehlentscheide des Verwaltungsrats sind kaum einklagbar.

Liberethica: Wie kann «Groupthink» in Entscheidungsgremien entgegengewirkt werden?

Jean-Daniel Gerber: Indem Verwaltungsräte mit Charakter und Durchsetzungsvermögen in dieses Gremium gewählt werden. Es braucht oftmals Mut, nicht ins gleiche Horn wie die Mehrheit zu blasen. Abweichende Stimmen müssen ernst genommen werden. Gefragt sind auch Verwaltungsräte, die die nationalen Gegebenheiten kennen und in einem mehrheitlich von Ausländern dominierten Gremium das lokale Stimmungsbild wiedergeben können, das mitzuberücksichtigen ist.

Liberethica: Welche Konsequenzen muss ein Verwaltungsrat gewärtigen, wenn er mit der Strategie der Institution nicht einverstanden ist oder als einziger den Anträgen des Managements nicht zustimmt?

Jean-Daniel Gerber: Meinungsunterschiede sind normal. Wenn diese aber in Grundsatzfragen und wiederholt auftreten, wird einem Verwaltungsrat nahegelegt, Abschied zu nehmen, wenn er nicht von alleine geht.

Liberethica: Wie ändert man ein Lohnsystem, das auch die obersten Chargen trifft?

Jean-Daniel Gerber: Die Hauptverantwortung liegt beim Verwaltungsrat. Dieser lässt sich bei der Höhe der Löhne und Boni oftmals von Vergleichsstudien mit ähnlichen Unternehmen leiten. Zeigt diese eine Unterbezahlung an, werden die Entschädigungen nach oben angepasst. Das Gegenteil, eine Anpassung nach unten, ist selten. Die Folge ist eine in der Branche sich nach oben bewegende Lohnspirale. Diese zu durchbrechen ist schwierig. Meine Erfahrung ist, dass dies nur in Situationen gelingt, in welcher das Unternehmen in einer tiefen Krise steckt.

Liberethica: Wie kann einem Kartell von Verantwortlichen entgegengewirkt werden, die einander Jobs und hohe Löhne zuschanzen?

Jean-Daniel Gerber: Banken, wie jedes Unternehmen, ob privat oder öffentlich, benötigen ein transparentes Nominierungsverfahren, in welchem die Auswahlkriterien kommuniziert und, wenn immer möglich, die offenen Stellen intern und extern ausgeschrieben werden.

Liberethica: Hat ein Verwaltungsrat in einem grossen Unternehmen überhaupt den Überblick, um rational entscheiden zu können? Oder anders gefragt: Sind Grosskonzerne überhaupt zu managen?

Jean-Daniel Gerber: In einem Grossunternehmen haben die meisten Verwaltungsräte nicht die Kenntnisse, alle Geschäfte detailliert beurteilen zu können. Deshalb sind die Verwaltungsratsmitglieder aus Personen verschiedener Berufe und mit unterschiedlichem Wissen und Fähigkeiten sowie mit unterschiedlicher Provenienz zusammengesetzt. Die unterschiedlichen Erfahrungen und Kenntnisse werden so gebündelt. Spezifische Kenntnisse werden hingegen in den Ausschüssen des Verwaltungsrats, z.B. im Audit und im Risikokomitee, verlangt. Diese richten ihre Empfehlungen an den Gesamtverwaltungsrat. Ebenfalls sollte ein Verwaltungsrat genügend Zeit haben, das Unternehmen und die Board-Unterlagen zu studieren. Ich hege Zweifel an Verwaltungsräten, die daneben einen CEO-Posten in einem Grossunternehmen bekleiden oder in mehreren Verwaltungsräten sitzen. Nicht dass diese nicht die Fähigkeit dazu hätten, sondern schlicht, weil auch für sie der Tag nur 24 Stunden hat.

Liberethica: Wie kommt es, dass die Aktionäre dem bunten Treiben auf den Chefetagen einfach zuschauen?

Jean-Daniel Gerber: Kleinaktionäre haben praktisch keine Einflussmöglichkeiten. Gefragt sind Grossaktionäre wie Pensionskassen und Anlagestiftungen. Diese haben die Möglichkeit, Missstände zu korrigieren, indem sie ihre Haltung öffentlich bekanntgeben.

 Liberethica: Wie kann in einer Branche, die notfalls mit dem Geld von Steuergeldern gerettet wird, das Geradestehen für das eigene Handeln, die Übernahme persönlicher Verantwortung gestärkt werden?

Jean-Daniel Gerber: Instrumente dazu bestehen bereits. Die Boni werden teilweise mit gesperrten Aktien ausbezahlt. Deren Wert nimmt bei schlechtem Geschäftsgang oder Rettungsaktionen ab. Ebenfalls sehen etliche Lohnsysteme Rückforderungsrechte vor. Auch der Regulator setzt Grenzen des Erlaubten und Nicht-Erlaubten. Nicht zu vernachlässigen ist schliesslich der moralische Schaden, nämlich die Ächtung, die gescheiterte Unternehmer in der Öffentlichkeit gewärtigen müssen – manchmal auch zu Unrecht, wenn sie für die Fehler der Vorgänger geradestehen müssen.

Liberethica: Wie muss man es sich erklären, dass sich die Skandale im Finanzsektor häufen? Anders gefragt: Ist der Finanzsektor anfälliger für unethisches Verhalten als andere Branchen?

Jean-Daniel Gerber: Ich zweifle, ob diese pauschale Aussage über den Finanzsektor stimmt. Jede Woche lese ich von betrügerischen Konkursen, unlauterem Wettbewerb, Erschleichen von Subventionen, Steuerhinterziehung, Wucherpreisen etc. in anderen Branchen.

Liberethica: Im Kreditgewerbe ist Vertrauen das Herz jeglicher Aktivität. Vertrauen kann aber nicht erzwungen, sondern lediglich gewonnen werden. Wie kann der Bankensektor das Vertrauen der Kunden und Aktionäre wieder zurückgewinnen?

Jean-Daniel Gerber: Indem die Banken selbst in der Branche für Ordnung sorgen. Machen sie es nicht, muss der Gesetzgeber einschreiten. Mit der «neuen» UBS wird die Too-big-to-fail-Problematik neu aufgerollt werden müssen. Die UBS-Führung und der Regulator sind hier gefordert.