Firmen pflegen neu eine Bürokratie des Guten – statt zu investieren

In seinem Gastkommentar schreibt Philipp Aerni  über das Schlagwort der Stunde, welche lautet «Unternehmensverantwortung» (NZZmagazin, 21. 05. 22). Das klingt zunächst einmal vernünftig, kollidiert aber paradoxerweise oft mit den Nachhaltigkeitszielen der Uno.

International tätige Grossfirmen bereiten sich derzeit in der EU auf die bevorstehende Verschärfung der Gesetze zu Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit vor. Diese verpflichten sie künftig dazu, via Berichterstattung im Unternehmensführungs-, im Umwelt- und im Sozialbereich nachzuweisen, dass ihre Lieferkette im Einklang mit den Klimazielen und mit den Uno-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte steht. In der Schweiz geht der indirekte Gegenvorschlag zu der im November 2020 abgelehnten Konzernverantwortungsinitiative zwar weniger weit als die geplante EU-Direktive, aber beide verfolgen eigentlich dasselbe Ziel: Multinationale Konzerne sollen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie Menschenrechtsverletzungen anderswo einfach ignorieren und die Umwelt zerstören.

Gegen dieses Ziel ist nichts einzuwenden. Es ist aber fraglich, inwieweit die geforderte Berichterstattungspflicht in der EU oder in der Schweiz das richtige Instrument ist, um die Menschenrechtssituation und die Umwelt auf diesem Planeten zu verbessern.

Grossfirmen übertreffen sich derzeit gegenseitig beim Ankündigen ehrgeiziger Ziele im Umwelt- und Sozialbereich, und sie zeigen auch auf, wie sie diese in ihrer Lieferkette strikt umsetzen wollen. Solche Ankündigungen sind nicht zuletzt auch gutes Marketing, sie steigern die Reputation. Doch wer trägt die Kosten der Umsetzung? Gerade in der Schweiz zeigt sich, dass diese immer mehr auf Lieferanten, also meistens KMU, abgewälzt werden. Diese befinden sich nun quasi in einem Hamsterrad, weil jeder Grosskunde auf die Umsetzung eines anderen etablierten Berichterstattungsstandards für Lieferanten pocht.

Diese privaten Standards stehen derzeit in der Kritik, weil sie keine verifizierbare Mess- und Vergleichbarkeit der Nachhaltigkeitsleistung ermöglichen. Das öffnet Tür und Tor für das sogenannte Greenwashing, mit dem sich Firmen bloss einen grünen Anstrich geben. Ausserdem ist der damit verbundene Bürokratieaufwand nicht wirklich mit einem Mehrwert für die Gesellschaft verbunden. Denn KMU schaffen ja nicht Wert, indem sie schöne Nachhaltigkeitsberichte schreiben, sondern indem sie verantwortungsvoll in Innovationen und neue Märkte investieren und damit wertvolle Arbeitsplätze schaffen.

Dies erkennen insbesondere auch die Uno-Nachhaltigkeitsziele. Beim Uno-Nachhaltigkeitsziel 8 geht es etwa um inklusives Wachstum und die Schaffung von anständigen Arbeitsplätzen, insbesondere in den Ländern mit tieferen Einkommen, sowie um das Abkoppeln des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch durch Innovation und mehr Effizienz. Doch während die Uno-Nachhaltigkeitsziele langfristige Direktinvestitionen in ärmeren Ländern als Teil der Lösung erkennen, betrachten die anderen Leitprinzipien der Uno solche Investitionen primär als Problem; ihre Prämisse ist es, keinen Schaden anzurichten (do no harm). Diese Doktrin basiert auf der Grundannahme, dass westliche Grossfirmen in diesen Ländern primär schnelle Profite auf Kosten der dortigen Umwelt und Gesellschaft erzielen wollen.

Tatsache ist jedoch, dass Firmen, die sich entscheiden, dort langfristig zu investieren, grosse Risiken eingehen. Sie müssen zuerst eine Infrastruktur aufbauen, die es ihnen erlaubt, operativ tätig zu werden. Ausserdem müssen sie lokale Zulieferer auf ein Qualitätsniveau bringen, das den Ansprüchen in der jeweiligen globalen Wertschöpfungskette genügt. Das alles kostet Zeit und sehr viel Geld. In den meisten Fällen zeichnet sich daher ein return on investment erst Jahre bis Jahrzehnte später ab, vorausgesetzt, dass das Land politisch stabil bleibt. Da Kinderarbeit in diesen Ländern oft die Regel und nicht die Ausnahme ist, muss ein zusätzlicher Aufwand betrieben werden, um lokale Zulieferer diesbezüglich strikt zu kontrollieren.

Für viele Grossfirmen ist daher die Unsicherheit und der Aufwand, im Süden zu produzieren, zu gross geworden; es sei denn, die lokale Präsenz ist nötig (etwa für die Extraktion von natürlichen Ressourcen) und hochprofitabel (steigende Rohstoffpreise). In diesem Fall wird jedoch die Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren wann immer möglich vermieden, um nicht in den Verdacht auf Kinderarbeit und Korruption zu geraten. Der Trend läuft darauf hinaus, dass nur noch jene Grossfirmen als nachhaltig gelten, die exklusiv in der eigenen risikoarmen Komfortzone Europa investieren. Dies steht im Widerspruch zum Geist der Nachhaltigkeitsziele. Diese wollen mehr Inklusivität durch mehr mutige Investitionen in die lokale Wirtschaft der ärmeren Länder. Solche sollten belohnt und nicht bestraft werden

Es kann nicht das Ziel sein, dass die neuen Verantwortlichkeitsregeln nur zu mehr Bürokratie für Europas KMU und zu weniger inklusiver Entwicklung im Süden führt. Eine selbstkritische Debatte wäre überfällig, aber eben wohl auch unbequem.

Erschienen in der NZZmagazin am 21. Mai 2022

Philipp Aerni - Kuratorium LiberethicaAutor:
Philipp Aerni
Direktor des Zentrums für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit an der School of Management Fribourg.
Mitglied Kuratorium Liberethica.

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