Verantwortungsvolle Politik hat immer das Gemeinwohl im Auge: ethische Überlegungen zur Frontex-Abstimmung

Die Gegner des Frontex-Ausbaus blenden mit rein ideologischen Argumenten die möglichen Folgen für die Gesamtgesellschaft und damit auch für die Flüchtlinge selbst aus. Dies ist politisch unverantwortlich.

Wer den Ausbau des Grenzschutzes an den europäischen Aussen­grenzen unterstützt, muss keineswegs mit allem, was dort geschieht, einverstanden sein. Und er muss erst recht nicht die derzeitige europäische Migrationspolitik in allen Punkten gutheissen.

Mit dem massgeblich von Asyl-Aktivisten ergriffenen Referendum gegen den Frontex-Ausbau, hinter dem die Vorstellung von einer Welt ohne Grenzen und von der Einwanderung in ein Land nach Wahl als einer Art Menschenrecht steht, ist allerdings gar niemandem geholfen: weder den einzelnen Ländern, namentlich den südeuropäischen Anrainerstaaten, die den Zustrom der Flüchtlinge nicht allein stemmen können, noch den vielen Flüchtlingen, die aus welchen Gründen auch immer nach Europa drängen.

Ein funktionierender Grenzschutz ist unerlässlich

Die Aufhebung oder zumin­dest Aufweichung des Grenzschutzes an den europäischen Aussen­grenzen, wie sie grossen Teilen der Referendumsbefürworter vor­schwebt, könnte sich vielmehr dahingehend auswirken, dass der autoritäre weissrussische Machthaber Alexander Lukaschenko sein Spiel weitertreibt und in organisierter Form Migranten aus Krisenre­gionen einfliegt, um sie dann in die EU zu schleusen und so die Staaten­gemeinschaft zu destabilisieren.

Gerade in der gegenwärtigen Krise, wo ein furchtbarer Krieg Europa erschüttert, ist ein funktionierender und sichergestellter Grenzschutz, der die an Leib und Leben bedrohten Flüchtlinge hereinlässt und Trittbrettfahrer des Ukraine-Krieges zurück­weist, absolut erforderlich.

Sollte das Frontex-Referendum angenommen werden, wäre aber gerade dies infrage gestellt: Die Schweiz würde aus dem Schengen-Dublin-System ausscheiden, was unermessliche Grenz­schutz- und Grenzverkehrsprobleme zur Folge hätte und bedeutete, dass in einem anderen Land registrierte Asylsuchende nicht mehr zurückgewiesen werden könnten.

Ein verminderter oder gänzlich aufge­hobener Grenzschutz an den europäischen Aussengrenzen, wie ihn nicht nur Asyl-Aktivisten, sondern auch gewisse linke Organisationen und kirchliche Kreise fordern, wäre aber auch in ethischer Hinsicht frag­würdig: Bei Menschen, die keinerlei An­spruch auf Asyl in Europa haben, würden nämlich falsche Hoffnungen geweckt, und sie würden dazu verleitet, eine nutzlose und lebensgefährliche Reise in An­griff zu nehmen.

Dass eine Politik der offenen oder nur ungenügend kontrollierten Grenzen eine enorme Sogwirkung auf viele in wirtschaftlich prekären Verhältnissen lebende Menschen auf der ganzen Welt haben, irreguläre Migration fördern und Schlepperorganisationen in die Hände spielen könnte, scheint einen grossen Teil der gesinnungsethisch argumentierenden Referendums­befürworter nicht zu stören. Die Folgenabwägung ist offensichtlich kein Bestandteil ihrer ethischen Überlegungen.

Ebenso wenig scheint sie zu beschäftigen, dass ein Staat, der die Kontrolle über die Grenz­sicherung und Begrenzung des Zustroms von Flüchtlingen aus der Hand gibt, kein Sozialstaat mehr sein und den von ihm aufgenommenen Asylsuchenden nicht mehr die erforderliche Infrastruktur bieten könnte. Denn die unbegrenzte Zuwanderung führt unbegrenzte Ausgaben ohne entsprechende Einnahmen nach sich.

Eine verantwortungsvolle Politik hingegen, die immer auch das Gemeinwohl im Blick hat, bedenkt die Folgen möglichen Handelns, etwa in Bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die politi­sche Stabilität. Sie sucht Entscheidungen, die an die realen Mög­lich­keiten der gegebenen Situation angepasst sind.

Der hoch­moralische Anspruch

Viele der Refe­ren­dums­befürworter, die von den individuellen Menschen­rechten der migrie­renden und flüchtenden Menschen weitreichende Aufnahme- und Schutz­pflichten der westlichen Staaten ableiten, treten mit einem hoch­moralischen Anspruch, wenn nicht gar mit einem Gestus moralischer Überheblichkeit auf. Es sei unerträglich, heisst es in ihren Kreisen, dass man die Grenzen schützen wolle vor jenen, die Schutz suchten.

Wer sich dagegen für einen verstärkten Grenzschutz an den EU-Aussen­grenzen ausspricht, läuft Gefahr, als herzlos gegenüber den zum Him­mel schreienden Migrations- und Flüchtlingsschicksalen zu gel­ten. Dabei müssten doch auch die Referendumsbefürworter wissen, dass man ethischen Dilemmata in der Flüchtlingspolitik kaum entgehen kann und oftmals zwischen zwei Übeln oder zumindest zwischen zwei weniger schlechten Lösungen abwägen muss.

Die Schweizer Betei­li­gung am Ausbau der EU-Grenzschutzagentur Frontex, über die am 15. Mai abge­stimmt wird, verspricht keine moralisch einwandfreie Lösung und kann nicht garantieren, dass man sich dabei nicht die Hände schmutzig macht. Aber anstatt mit einer hehren Gesinnung auf Distanz zur europäischen Migrationspolitik zu gehen, sollte die Schweiz Verant­wortung überneh­men und die künftige Ausrichtung der europäischen Grenzschutz­organisation Frontex entschieden mitbestimmen.

Erschienen in der NZZ am 27. April 2022

Dr. Béatrice Acklin Zimmermann - Kuratorium LiberethicaAutorin:
Béatrice Acklin Zimmermann
Moderatorin und Publizistin.
Geschäftsführerin und Mitglied Kuratorium Liberethica.

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Kurt Fluri - Kuratorium LiberethicaAutor:
Kurt Fluri
FDP-Nationalrat und im Kuratorium von Liberethica

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