Künstler haben das Recht, sich nicht politisch äussern zu müssen
Künstler, die eine zu grosse Nähe zum ruchlosen Kriegstreiber Putin demonstriert haben, stehen unter grossem Druck. Die Freiheit der Kunst muss aber gegen jede Form von politischer Bevormundung und Moralisierung verteidigt werden.
Die Schatten und Gespenster der nachtschwarzen Lady Macbeth, deren Rolle Anna Netrebko in Verdis Oper demnächst in Zürich hätte singen sollen, haben die russische Sopranistin fernab der Bühne eingeholt. Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges steht die Künstlerin, die für ihre Putin-Nähe bekannt ist, unter erheblichem Rechtfertigungsdruck.
Inzwischen hat Netrebko zwar in einem Statement den Krieg in der Ukraine explizit verurteilt und den Menschen in der Kriegsregion gegenüber ihr Mitgefühl ausgedrückt, doch offensichtlich genügt dies der Leitung des Opernhauses nicht: In einer Mitteilung heisst es, dass man die eigene Position, nämlich die entschiedene Verurteilung von Putin und seinem Handeln, und die öffentliche Position von Anna Netrebko als nicht kompatibel betrachte.
Meinungs- und Kunstfreiheit
Unter dem Jubel der Öffentlichkeit und dem Applaus der im Netz versammelten, selbsternannten Vollzieher des «Jüngsten Gerichts» wurde bekanntgegeben, dass Verdis «Macbeth» ohne die weltweit gefeierte Starsopranistin aufgeführt werde.
Der Schritt, den sich die Leitung des Opernhauses nicht leichtgemacht haben dürfte, ist nachvollziehbar. Aber er ist auch problematisch und wirft eine Reihe von Fragen auf: Dürfen Künstler je nach Weltlage zu politischen Statements gedrängt werden, bevor sie auftreten? Gibt es einen legitimen Anspruch an Künstler, egal, welcher Nationalität, dass sie ihre politische Gesinnung auf Anweisung eines Politikers, eines Intendanten oder der Internet-Community offenzulegen haben?
Müssen nun auch andere Künstler fürchten, dass sie zuerst ein politisches Bekenntnis abgeben müssen, bevor sie auftreten dürfen? Wer bestimmt, was in diesem Bekenntnis vorkommen muss, damit sie Gnade finden? Darf man künftig noch hochrangige Repräsentanten russischer Staatskunst wie den Chefdirigenten des Bolschoi-Theaters oder den Intendanten des St. Petersburger Mariinsky-Theaters einladen? Macht sich fortan verdächtig, wer Putins Lieblingskomponisten Tschaikowsky spielt oder dessen Opern inszeniert?
Und schliesslich: Wie ist mit chinesischen Künstlern umzugehen, die sich nicht eindeutig von Peking und dessen brutalem Vorgehen gegen die Uiguren distanzieren? Sollte sich nicht auch der Pianist Lang Lang vor seinem nächsten Auftritt in der Schweiz erklären müssen, wie er zum chinesischen Präsidenten Xi Jinping steht? Und kann man den venezolanischen Dirigenten Gustavo Dudamel ein Neujahrskonzert dirigieren lassen angesichts dessen, dass er dem Diktator Hugo Chávez nahestand und bei dessen Begräbnis den Sarg mittrug?
Sollte es zutreffen, dass Anna Netrebko ihre positive Einschätzung des russischen Machthabers nicht revidiert hat und weiterhin zum ruchlosen Kriegstreiber Putin hält, so mag man das als ungeheuerlich, ja abstossend empfinden. Aber das erlaubt noch lange nicht, in die Meinungs- und Kunstfreiheit einzugreifen.
Freiheitliche Gesellschaft muss etwas aushalten
Anders als im Russland Netrebkos hält eine freiheitliche Gesellschaft nach westlichem Massstab auch abstruse, abwegige und irrige Positionen aus. In einer freiheitlichen Gesellschaft hat jeder das Recht darauf, seine Überzeugung zu äussern, ohne deswegen Sanktionen befürchten zu müssen. Und jeder, auch eine Künstlerin, hat ebenso das Recht, sich nicht politisch äussern zu müssen.
Wer, wie der Pianist und politische Aktivist Igor Levit, russische Künstler zu einem Positionsbezug gegen ihre Heimat zwingen will, verkennt, dass die Freiheit der Kunst gegen jede Form von politischer Bevormundung und Moralisierung verteidigt werden will. Er verkennt aber auch das ethische Dilemma, in dem sich derzeit (wieder) viele russischstämmige Kunstschaffende befinden: Äussern sie öffentlich Kritik am totalitären Regime und am von ihm entfachten Krieg, riskieren sie die Gefährdung von Angehörigen in ihrer Heimat. Verweigern sie einen öffentlichen Positionsbezug, so wird ihnen vorgeworfen, sie hätten sich mit den Machthabern arrangiert, und es droht ihnen das Ende ihrer Karriere.
Erschienen in der NZZ am 07. März 2022
Autorin:
Béatrice Acklin Zimmermann
Moderatorin und Publizistin.
Geschäftsführerin und Mitglied Kuratorium Liberethica.
Autorin:
Béatrice Acklin Zimmermann
Moderatorin und Publizistin.
Geschäftsführerin und Mitglied Kuratorium Liberethica.