Die Kirche ist kein Lautsprecher für die Kampagne politischer Gruppierungen

Die Kirche sollte selber Themen setzen und sich mit eigenen Bei­trägen in den öffentlichen Diskurs ein­bringen. Die politische Klein­arbeit darf sie indessen getrost anderen überlassen.

In seinem Beitrag «Kirchen müssen den Finger in die Wunde legen, wenn Men­sch­en­­­würde missachtet wird» (NZZ 25. 11. 21) verteidigt der Zürcher Grossmün­ster­pfar­rer Christoph Sigrist eine politisch engagierte Kirche. In der Tat ist der Ver­kün­di­gungs­­auftrag der Kirche unauflöslich mit einem Öffentlichkeitsauftrag verbun­den und von daher hochpolitisch. Die Kirche kann von ihrem genuinen Auftrag her gar nicht anders, als sich öffentlich einzubringen.

Der christliche Glaube hat es nicht nur – um mit Dietrich Bonhoeffer zu sprechen – mit «den letzten Dingen», son­dern eben auch mit «den vorletzten Dingen» im Hier und Jetzt zu tun. Die entscheid­ende Frage ist des­­halb nicht, ob, sondern wie sich die Kirche in den öffentlichen Dis­kurs ein­bringt.

Das prophetische Wäch­ter­amt
Wenn Sigrist aus dem in der reformierten Tradition verankerten «propheti­schen Wäch­teramt» die Aufforderung herausliest, die Kirche habe «auch im öf­fent­­lichen Dis­kurs politischen Widerstand zu leisten», dann ist daran zu erinnern, dass uns vom 16. Jahrhundert historische Welten trennen: Das prophetische Wäch­ter­amt hat seine dazumal wichtige kritische Funktion gegenüber der Amtsführung des Rates inzwisch­en eingebüsst.

Im heutigen politischen System der Schweiz können die ge­wähl­ten Regierungsmitglieder jederzeit abgewählt werden. Kritik an der Regierungs­arbeit erfolgt innerhalb des politischen Systems, von oppositionellen Parteien und auch von der sogenannt vierten Gewalt, den Medien. Zu fast jeder politischen Position gibt es eine Gegenposition, bei Abstimmungen eine Pro- und eine Contra-Seite. Eine Kirche als «Wächterin» braucht es nicht mehr, da das Wächteramt bereits in das Sy­stem einge­baut ist.

Kommt hinzu, dass die Kirche in der heutigen, säkularen Ge­sell­schaft nur noch eine Stimme unter vielen ist und deshalb in der politischen De­batte keine be­son­dere Autorität mehr beanspruchen kann. Dass es «die Kirche», die in politischen Sachfragen mit einer Stimme auftreten könnte, ohnehin nicht gibt und dass Christen­menschen in fast allen politischen Lagern vertreten sind, dürfte auch dem Gross­münsterpfarrer nicht entgangen sein: Nicht zuletzt die Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative hat gezeigt, dass man bei den allermeisten politischen Sachfragen die eine oder andere Meinung vertreten kann, ohne dass man deshalb ein schlechterer Christenmensch wäre.

Gerade die Kirche zeichnet sich ja dadurch aus, dass ihr ganz unterschiedliche Menschen angehören, die – im Unter­schied zu Parteien, Gewerkschaften oder Wirt­schaftsverbänden – eben nicht aufgrund ihrer politischen Einstellung, sondern durch das Band des Glaubens mit­ein­ander verbunden sind. Wenn die Kirche sich in den öffentlichen Diskurs einbringt, dann braucht sie dafür nicht das aus der Zeit gefallene prophetische Wächteramt zu bemühen. Als Institution mit jahrhundertealter Kompe­tenz in ethi­schen Fragen ist sie gefordert, sich öffentlich zu äussern und hartnäckig christ­liche Grundsätze wie die Wür­de jedes einzelnen Men­schen, un­ab­hängig von seiner Leistung, anzumahnen.

«In Zeiten und Unzeiten»
Die politische Klein­arbeit darf die Kir­che indessen getrost anderen überlassen: An­statt es bei Parolen, Meinungsäusser­ung­en und einem blossen Schlagab­tausch zu belassen, kann die Kirche Orte bieten, an denen aus einem anderen Blick­winkel und in anderer Weise über Themen nachge­dacht und diskutiert wird, als es sonst – etwa im Parlament, in den sozialen Netzwerken oder an Stammtischen – der Fall ist.

Um es mit den Wor­ten von Richard von Weizs­äcker zu sagen: «Die Kirche soll nicht Politik machen, sondern sie ermöglichen.» Poli­tik ermöglichen kann sie dadurch, dass sie selber Themen setzt, sich mit eigenen Bei­trägen in den öffentlichen Diskurs ein­bringt und selber Meinungspro­zesse in Gang bringt, anstatt sich im Chor der politischen Akteure mit der Verstärkerrolle zufriedenzugeben. Da die Kir­che beauftragt ist, «in Zeiten und Unzeiten» zu reden, wird sie ihr Fähnlein nicht nach dem politischen Wind hängen, sondern es wagen, sich dem Zeitgeist entgegenzustellen.

Erschienen in der NZZ am 12. Januar 2022

Dr. Béatrice Acklin Zimmermann - Kuratorium LiberethicaAutorin:
Béatrice Acklin Zimmermann
Moderatorin und Publizistin.
Geschäftsführerin und Mitglied Kuratorium Liberethica.

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Autorin:
Béatrice Acklin Zimmermann
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