Die kirchliche Einmischung in die weltliche Politik hat Grenzen
Die Landeskirchen geben immer häufiger politische Parolen heraus – etwa bei der Konzernverantwortungsinitiative. Das steht ihnen als öffentlich-rechtliche Institutionen nicht zu.
Der Zug unserer Zeit ist die Renaissance einer stets erbittert und oft bitterlich geführten Moraldebatte, vor allem aber der Moralherrschaft, der Verkündung des persönlichen Empfindens im tarnenden Gewande unverrückbarer Wahrheit. Bei Lichte betrachtet geht es darum, politische Forderungen mit dem Schleier des erhabenen Guten zu verhüllen und dadurch den Gegner nicht politisch, sondern moralisch angreifbar zu machen.
Mit besonderem Eifer haben sich in jüngster Zeit die beiden Landeskirchen diesem Kampf für das Gute, Bessere und Beste hingegeben. Kulminationspunkt dieses Drangs in das als Moral verkleidete Politische war die Auseinandersetzung um die im Herbst 2020 am Ständemehr gescheiterte Konzernverantwortungsinitiative. Die überall reichlich orange beflaggten Kirchentürme avancierten zu überdimensionierten Litfasssäulen politischer Propaganda, anstatt mit ihrem Glockengeläut die Gläubigen zum Gottesdienst zu rufen. Der Gottesdienst selbst, eigentlich ein Beisammensein der Gläubigen zur Verkündung des Evangeliums, glich bisweilen mehr einem Parteitag, bei dem die Pfarrer die Gläubigen von der Kanzel herab mit vorgefassten Predigten auf den politischen Kurs der Kirche einschworen.
Die Initiative berühre nämlich, so die Kirche, den Kern des christlichen Glaubens und die Menschenwürde. Inwiefern eine simple rechtstechnische Haftungsregelung in diese ehrwürdigen Gefilde vorzudringen vermag, muss freilich im Dunkeln bleiben; auch die Begründung der Kirchen verharrte im Nebulösen und dafür umso Wortgewaltigeren – ein sicheres Indiz für ein mehr als brüchiges argumentatives Fundament. Jedenfalls erweckten die Kirchen den Eindruck, dass ein «guter Christ» unmöglich gegen diese Initiative eintreten könne, wolle er sich nicht der Sünde hingeben.
Das eifrige Engagement der Landeskirchen hat, gelinde ausgedrückt, einige Irritation in der helvetischen Politik hervorgerufen. Selbst die Bundeskanzlei, Hüterin der politischen Rechte der Bürger, sah sich dazu veranlasst, die Kirchen für ihre wenig subtile Kampagne mit ungewohnt scharfen Worten zu kritisieren. Im Raum stand der Vorwurf, dass die Kirchen im Abstimmungskampf die verfassungsrechtlich verbürgte Willensbildungsfreiheit der Bürger verletzt hätten.
Auch in Zukunft werden etliche Volksinitiativen vorgeben, die Menschenrechte und die Umwelt schützen zu wollen. Vor diesem Hintergrund erhebt sich die Frage, ob es wirklich dem Auftrag der Landeskirchen und der ihnen von Verfassungs wegen zugedachten Funktion entspricht, unter dem vorgeschützten Deckmäntelchen christlicher Morallehre profane Tagespolitik zu betreiben, und wo allenfalls die von ihnen zu beachtenden Grenzen liegen.
Dass christliche Ethik und Politik miteinander verwoben sind, ist eine Binsenwahrheit. Die christliche Ethik hat nicht nur das Verhältnis zwischen Gott und Menschen im Auge. Ihr Blick richtet sich auch auf das Verhältnis zwischen den Menschen untereinander. Insofern kann die Politik als Gefüge von «Gesellschaft – Wirtschaft – Staat» sehr wohl Bestandteil christlicher Reflexion sein.
Doch allein damit lässt sich noch kein Eingriff der christlichen Ideenwelt in die weltliche Tagespolitik rechtfertigen. Es fragt sich deshalb, woraus ein entsprechender «Auftrag» abgeleitet werden könnte. Zu denken ist zuvorderst an die heiligen Schriften. Diese enthalten jedoch nur sehr allgemein gehaltene und darüber hinaus oft widersprüchliche und jedenfalls mit Blick auf ihre Entstehungszeit zu interpretierende Aussagen über gesellschaftliche und staatspolitische Fragen. Sie eignen sich deshalb kaum als Auftragsquelle für aktuelle politische Fragen und dürfen mithin nicht zum wörtlich zu verstehenden Massstab praktischer Politik erklärt werden.
Allein dieser Umstand sollte zur Zurückhaltung beim Engagement zu politischen Tagesfragen verpflichten. Das heisst nun aber nicht, dass es der Landeskirche verwehrt ist, Kontroverses zur Diskussion zu bringen. Die Landeskirche soll sich äussern dürfen, wenn in ihrer Wahrnehmung Missstände, Unrecht oder Not erkannt werden. Das gilt namentlich für Themen, die den Kern der christlichen Soziallehre betreffen.
Wenn die Landeskirche in solchen Fragen das Wort ergreift, sollte sie allerdings nicht parteipolitisch agieren oder sich parteipolitisch vereinnahmen lassen. Es geht darum, eine christliche Perspektive in die Meinungsbildung einer pluralen Gesellschaft einzubringen. Deshalb muss erkennbar sein, wie das im Evangelium begründete Verständnis des Menschen und der Welt Argumentation trägt. Es muss zudem Raum dafür bleiben, dass es auch bei gemeinsamen christlichen Werten unterschiedliche legitime politische Ansichten geben kann. Denn die Kirche hat zur Kenntnis zu nehmen, dass ihre Gebrauchsanweisungen für politisches Leben nicht mit demselben Wahrheitsgrad ausgestattet sind wie die im Namen göttlicher Autorität verkündeten Heilsmitteilungen, für die sie ja in erster Linie zuständig ist.
Man darf sich schliesslich fragen, ob die Landeskirche gut beraten ist, sich auf das ihr auftragsfremde Gebiet der Tagespolitik vorzutasten. Je mehr sie durch ein direktes Engagement in politischen Ermessensfragen tätig und dadurch zur «Partei» wird, desto eher droht sie in ihren ureigenen Bereichen – in der Seelsorge, in Glaubensfragen oder im Karitativen – an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Hielte die Landeskirche es trotzdem für geboten, politische Interessenvertreterin und Meinungsmacherin zu werden, so müsste sie sich in Erinnerung rufen, dass der Staat die Tätigkeiten, das karitative Engagement und die Selbstverwaltung der Kirchen deshalb schützt und fördert, weil dem durch die Landeskirchen verkündeten christlichen Glauben kein politischer Gestaltungsanspruch zukommen soll. Die Landeskirche ist als öffentlich-rechtliche Körperschaft sui generis denn auch Teil des grundrechtsgebundenen Gemeinwesens. Die verbleibende Attraktivität des Körperschaftsstatus liegt in einer Reihe konkreter Privilegierungen, die Privatvereinen nicht zustehen und die besondere Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen. Dazu gehört in erster Linie das Recht der Kirchensteuererhebung, das den Landeskirchen in den vergangenen Jahrzehnten grosse finanzielle Sicherheit gegeben hat.
Daraus folgt: Solange die Landeskirche öffentlich-rechtlich verfasst ist, ist sie keine privatrechtliche Organisation und kann daher auch nicht dieselben Freiheiten wie Private beanspruchen. Möchte die Landeskirche aber in der Lage sein, frei im Sinne ihrer Massgaben und Ziele tagespolitisch zu agieren, so muss sie auf den Körperschaftsstatus und den sich daraus ergebenden Privilegien verzichten. Den Fünfer und das Weggli zugleich gibt es nicht.
Erschienen Online auf nebelspalter.ch am 21. Dezember 2021
Autor:
Matthias Müller
Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz.
Mitglied Kuratorium Liberethica.