Wem gehört die Moral?
Wer andere selbstgerecht darüber belehrt, wie sie sich moralisch zu verhalten hätten, und sich selbst stets auf der Seite der Guten wähnt, verwechselt Moral mit Moralismus.
Es gibt Dinge, die gehen gar nicht: zum Beispiel lügen wie gedruckt – oder im Kaufhaus Ware mitlaufen lassen; oder den Geschäftspartner über den Tisch ziehen; oder dem Nachbarn die Tür eintreten, weil er zu laute Musik hört. «Nicht lügen!» «Nicht schummeln!» «Nicht hauen!» Als Kind wurde es uns tagtäglich und so lange gesagt, bis wir es verinnerlicht hatten, was sich gehört und was nicht. Das eigene Gewissen, der ständige Appell und eine Fülle von Normen und Regeln, Geboten und Verboten formt unsere Vorstellung davon, was Moral, was also gut und was schlecht ist. Was wir tun sollen und welches Verhalten moralisch gut oder schlecht ist, wurde uns massgeblich beigebracht von den Eltern, von der Schule, von der Religion und vom Staat und seinen Gesetzen.
Moralische Normen regeln das Zusammenleben der Menschen; ohne Moral würde eine Gesellschaft auseinanderbrechen. Das Verbot etwa zu töten, zu betrügen oder zu rauben, ist essenziell für das Funktionieren einer Gesellschaft. Ohne Moral geht es nicht. Moral geht alle an und kann niemandem egal sein. Ein Verstoss gegen moralische Normen bleibt nicht folgenlos, sondern führt zu Sanktionen: ein schlechtes Gewissen, ein böser Blick, eine Strafufgabe, ein Shitstorm in den sozialen Netzwerken, Boykottaufrufe für ein umstrittenes Produkt, ein Imageschaden für das Unternehmen.
Meistens wissen wir ziemlich genau, wie wir uns verhalten sollen. Es gibt aber auch Situationen, in denen wir in eine Zwickmühle hineingeraten und uns keineswegs sofort klar ist, was das richtige oder bessere oder wenigstens weniger schlechte Verhalten ist. Situationen, in denen wir uns zwischen mehreren gleichermassen inakzeptablen oder zumindest unangenehmen und oftmals sich gegenseitig ausschliessenden Alternativen entscheiden müssen. Situationen also, in denen es keine ethisch unumstrittene oder eindeutig richtige Lösung gibt. Man befindet sich in einem moralischen Dilemma. Gilt das Lügenverbot immer und überall? Oder darf notfalls gelogen werden, wenigstens ein bisschen? So richtig verzwickt werden kann es bei politischen Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen, etwa bei der Frage, die so alt ist wie aktuell: Ist die gezielte Tötung eines Tyrannen oder Terroristen gerechtfertigt? Bis dato zerbrechen sich darüber Philosophen und Ethiker den Kopf.
Konflikte um moralische Prinzipien kommen durch die Globalisierung gehäuft auch in der Wirtschaftswelt vor: Ist es zum Beispiel moralisch vertretbar, Kleider zu kaufen, die in Ländern durch Kinderhände und unter miserablen Arbeitsbedingungen hergestellt werden? Oder führt der Boykott die Menschen dort erst recht in Schwierigkeiten? Dürfen Konzerne mit Ländern, die ökologische Standards missachten und die Menschenrechte nicht einhalten, Geschäfte führen? Sind das nun schmutzige Geschäfte, mit denen ein Unrechtssystem noch (ungewollt) stabilisiert wird, oder tragen ausländische Firmen über die Schaffung von Arbeitsstellen und den Aufbau von Infrastruktur letztlich zu einem positiven Wandel im Land bei?
Was ist zu tun, wenn keineswegs eindeutig ist, ob durch den Rückzug eines Unternehmens aus einem Unrechtsstaat der soziale Nutzen oder Schaden grösser ist? Charakteristisch in solchen Situationen ist die gleichzeitige Gültigkeit mehrerer moralischer Prinzipien, aus denen jedoch unterschiedliche Handlungsempfehlungen resultieren. Oftmals entstehen, egal wie die Entscheidung ausfällt, in der Konsequenz keine moralisch einwandfreien Ergebnisse, und der moralisch Handelnde macht sich in ethischer Hinsicht so oder so schuldig.
Die Beispiele ethischer Dilemmata machen deutlich, dass eindeutige, moralisch saubere Lösungen, wie sie die moralisierte Öffentlichkeit, wie sie Kirchen und NGO fordern, auf dieser Welt und somit auch in der Wirtschaftswelt nicht immer zu haben sind. Wer im Leitartikel, auf dem Lehrstuhl, am Stammtisch oder auf der Kanzel mit Vehemenz die Moral für sich pachtet, verkennt, dass die Welt nicht einfach in Schwarz-Weiss, in Gute und Böse, in Himmel und Hölle, in Halunken und Engel eingeteilt werden kann.
Wer in selbstgerechter Manier die anderen darüber belehrt, wie sie sich moralisch zu verhalten hätten, und sich selbst auf der Seite der Guten wähnt, verwechselt Moral mit Moralismus. Dies wusste schon Wilhelm Busch, dessen Bildergeschichte «Die fromme Helene» von zwielichtiger Bürgermoral und religiöser Heuchelei handelt: «Ein guter Mensch gibt gerne acht, ob auch der andre was Böses macht; und strebt durch häufige Belehrung, nach seiner Bess’rung und Bekehrung.»
Mit der fortschreitenden Globalisierung wachsen nicht nur die ethischen Herausforderungen, sondern auch die moralischen Dilemmata häufen sich eher, als dass sie sich verringern. Das ruft vermehrt und in vielen Bereichen die Ethik aufs Tapet. Nicht zuletzt international tätige Unternehmen, die besonders im Fokus der gegenwärtigen öffentlichen Wahrnehmung stehen, sind gefordert, in die Offensive zu gehen und nach Lösungswegen aus moralischen Dilemmata zu suchen.
Erschienen in der NZZ vom 6. September 2021
Autorin:
Béatrice Acklin Zimmermann
Moderatorin und Publizistin.
Geschäftsführerin und Mitglied Kuratorium Liberethica.
Autorin:
Béatrice Acklin Zimmermann
Moderatorin und Publizistin.
Geschäftsführerin und Mitglied Kuratorium Liberethica.