Eine ganzheitliche Sichtweise der Ethik muss sich vom bi-polaren Denken verabschieden
Bereits am Anfang des Zeitalters der Aufklärung zeigte der Philosoph Baruch de Spinoza in seinem Buch «Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt» auf, dass die adäquate Erkenntnis der menschlichen Natur, die Grundlage für jede menschenfreundliche Ethik sein muss. Eine solche Ethik baut im Wesentlichen auf der Tatsache auf, dass Körper und Geist, wie auch Eigeninteresse und Moral, nicht voneinander trennbar sind. Spinoza’s entwicklungsorientierte Tugendethik impliziert, dass die Genese der Moral nur im Umgang mit dem ‘Du’ (den Erfahrungen mit der unmittelbaren Mitwelt) verstanden werden kann. Die Moral entsteht demnach aus der subjektiven Einsicht, dass langfristig nichts im Leben erreicht werden kann, ohne die Mithilfe der Mitmenschen. Darum ‘lohnt’ es sich auch, seine Mitmenschen zu respektieren und sich für die Gemeinschaft einzusetzen… Moral ist daher immer an ein spezifisches Subjekt mit seiner jeweiligen moralischen Biografie gebunden.
Ganzheitlich und selbstkritisch denken lernen
Eine vom Subjekt unabhängige Moral, wie sie die spätere klassische Ethik voraussetzt, wäre daher aus Spinoza’s Sicht eine Fiktion. Die subjektive Moral widerspiegelt stattdessen die Vielfalt der Erfahrungen mit dem ‘Du’ und tritt immer zuerst auf einer emotional-sinnlichen Ebene ins Bewusstsein. Dieses ganzheitliche Ethikverständnis steht im Einklang mit den neueren Einsichten in der Anthropologie, der Moralpsychologie und den Neurowissenschaften. Es ist auch selbstkritisch im Sinne, dass die in der Gesellschaft geltenden Normen und Werte permanent hinterfragt werden müssen, basierend auf eigenen konkreten Erfahrungen. Leider spielen Spinoza’s fundamentale Einsichten zur menschlichen Natur und seiner Moral kaum eine Rolle in den polarisierten öffentlichen und akademischen Diskursen um Wirtschaft und Menschenrechte. Denn in diesen wird die Wirtschaft nicht als Teil der Gesellschaft verstanden, sondern als etwas Externes, das sich auf Kosten von Mensch und Umwelt breit macht.
Wirtschaft ist Teil der Gesellschaft
Genauso wie unser Körper die physischen Voraussetzungen für den Geist schafft, sorgen jedoch die wirtschaftlichen Aktivitäten für die materielle Basis, die unter anderem den zukunftsgerichteten Diskurs über den verantwortungsvollen Umgang mit der Mitwelt ausserhalb unserer unmittelbaren Gemeinschaft erst ermöglicht. Das Argument, dass in der Wirtschaft nur diejenigen reüssieren können, die rücksichtslos und egoistisch handeln, mag vielleicht immer noch so in ökonomischen Lehrbüchern stehen, doch gerade die Erfahrung im Alltag zeigt, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Erfolgreiche Unternehmer:innen zeichnen sich nämlich meistens dadurch aus, dass sie sich mehr um die Zufriedenheit ihrer Anspruchsgruppen sorgen, als um sich selbst; denn von Kunden oder den Mitarbeitenden hängt schlussendlich auch der eigene Erfolg ab. Ausserdem spielen Unternehmer:innen eine zentrale Rolle bei der Nutzung von Wissen (der einzigen nicht-knappen Ressource auf diesem Planeten) um Innovationen zu schaffen, die nicht nur profitabel sind, sondern auch einen nachhaltigeren Umgang mit existierenden knappen Ressourcen ermöglichen – und das trotz Bevölkerungs- und Wohlstandwachstum.
Unterscheidung zwischen Wächter- und Unternehmermoral
Die interdisziplinäre Sozialwissenschaftlerin Jane Jacobs erkannte, dass wir unterscheiden lernen müssen zwischen einer Unternehmermoral (commercial syndrome of morality) und einer Wächtermoral (guardian syndrome of morality). Die erste steht für den Mut zur Veränderung durch Innovation und die Bereitschaft gemeinsam finanziell nachhaltige Lösungen für dringende Probleme zu finden; die zweite steht für die Einhaltung und Bewahrung von Regeln und Normen in der Gesellschaft. Das Problem an der heutigen Diskussion um Wirtschaft und Menschenrechte ist, dass sich niemand die Mühe nimmt die Unternehmermoral zu verstehen. Die primäre Funktion von verantwortungsvollen Unternehmen ist nämlich Veränderung zu schaffen durch Investitionen in die Zukunft. Wenn auch in Unternehmen die Wächtermoral des Staates dominieren würde, führte dies gemäss Jane Jacobs bloss zu einer Scheinmoral in der Wirtschaft. Ausserdem würde der Staat, in seiner Verantwortung Gesetze und Normen effektiv zu implementieren und langfristig für das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen seiner Bürger zu sorgen, geschwächt, denn die Wächtermoral wird ja nun an die Wirtschaft delegiert, was häufig dazu führt, dass die Unternehmermoral bei staatlichen Institutionen überhand nimmt, was oft einhergeht mit mehr Korruption. Mit anderen Worten, moralische Katastrophen passieren gemäss Jane Jacobs immer dann, wenn Wächtermoral dort herrscht, wo eigentlich Unternehmermoral herrschen sollte, und umgekehrt. Auch wenn Wächter- und Unternehmermoral nirgendwo in Reinform existieren mögen, liefert die Unterscheidung dennoch eine gute Basis, um die Ethik in einer komplexen Welt weiterzudenken.
Autor:
Dr. Philipp Aerni, Direktor des Zentrums für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit an der School of Management Fribourg und Mitglied des Kuratoriums von Liberethica
Autor:
Dr. Philipp Aerni, Direktor des Zentrums für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit an der School of Management Fribourg und Mitglied des Kuratoriums von Liberethica
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Literatur:
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Aerni, P. (2021) ‘Decentralized economic ecosystems in Switzerland and their contribution to inclusive and sustainable change’. Sustainability 13(8), 4181. https://doi.org/10.3390/su13084181
Aerni, P. (2021) ‘The ethics of farm animal biotechnology from an anthropological perspective’. Sustainability 13(7), 3674. https://doi.org/10.3390/su13073674.
Aerni, P. (2018) ‘Global Business in Local Culture: The impact of embedded Multinational Enterprises’. SpringerBriefs in Eco-nomics, 1-122.
Aerni, P., Grün K.-J., Kummert, I. (eds) (2015) Schwierigkeiten mit der Moral: Ein Plädoyer für eine neue Wirtschaftsethik. Springer Gabler, Wiesbaden (August 2015)
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Aerni, P. und Grün, K-J. (eds). (2011) ‘Moral und Angst’. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen (May 2011)*Jacobs, J. (1994). Systems of Survival: A Dialogue on the Moral Foundations of Commerce and Politics. Vintage, New York.
Spinoza, B. (1677/1999). Ethik in geometrischer Form dargestellt. Felix Meiner Verlag, Hamburg.